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Lehrstellen in Baden-Württemberg – Junge Bewerber haben eine große Auswahl

Im September strömen Tausende Jugendliche zu ihren neuen Ausbildungsstellen. Anders als in anderen Bundesländern stehen die Chancen im Südwesten sehr gut, seinen Traum-Ausbildungsplatz auch zu bekommen. Das Angebot ist reichlich.

Stuttgart - Sascha Hessling sitzt in seinem 250 000 Euro teuren Bagger und drückt einen Joystick. Die Schaufel hebt sich, dreht sich um die eigene Achse, schwenkt nach oben und unten. „Schon als Kind habe ich gerne Baggerfahrern zugeschaut, meine Eltern hatte es immer schwer, mich von einer Baustelle weg zu kriegen“, erzählt der 18-Jährige aus dem Kreis Ravensburg. Auf dem Gelände eines ehemaligen Steinbruchs bei Schorndorf absolviert er gerade einen Teil seiner Ausbildung zum Baugeräteführer. „Das macht richtig Spaß,“, sagt der Auszubildende „ich arbeite gerne an der frischen Luft, ich brauche die Abwechslung“. Ein Fabrikarbeitsplatz wäre nichts für ihn.

Baugeräteführer zu werden, das gilt fast schon als eine Art Krönung der Ausbildung am Bau. „Die Technik hat sich enorm entwickelt“, meint Martin Kleemann vom Ausbildungszentrum Bau in Geradstetten, einer Einrichtung des Branchenverbands Bauwirtschaft Baden-Württemberg. „Über die weiße Antenne kann der Bagger GPS-Daten empfangen, die sagen dem Baggerführer, wo und wie er buddeln muss“. Rund 200 Baugeräteführer werden derzeit in Baden-Württemberg ausgebildet, mehr als in jedem anderen Bundesland. „Den Beruf gibt es erst seit 1992, vorher hat man ungelernte Leute auf die Bagger gesetzt“, erzählt Kleemann. Das Klischee, auf dem Bau gebe es nur Dreck, Staub und wenig an moderner Technik, hält sich bis heute – auch bei vielen Jugendlichen. „Schon seit Jahren gibt es in der Bauwirtschaft mehr offene Stellen als interessierte Bewerber“, berichtet Dieter Diener, der Hauptgeschäftsführer bei Bauwirtschaft-Baden-Württemberg. In den vergangen sieben Jahren hat sich die Zahl der offenen Stellen am Bau mehr als verdoppelt. Mehr als 1600 Arbeitsplätze können nicht besetzt werden – weil die Baukonjunktur gut ist, aber eben auch, weil es seit Jahren zu wenig Nachwuchs gibt oder dieser als zu gering qualifiziert beurteilt wird.

Mit dem Nachwuchsmangel steht die Bauwirtschaft in einer Reihe mit Branchen wie dem Hotel- und Gaststättengewerbe oder den Bäckern. „Das hören wir aus allen Regionen“, sagt Andreas Kofler, Geschäftsführer beim Landesinnungsverband für das Württembergische Bäckerhandwerk, zum Mangel an Jugendlichen, die sich in seiner Branche ausbilden lassen wollen. Natürlich weiß er, dass weniger bezahlt wird als in anderen Branchen oder dass manche die Arbeit zu nachtschlafender Zeit nicht für sonderlich attraktiv halten. Wer sich aber für eine Ausbildung in der Backstube entscheide, für den sei die Bezahlung nicht das Entscheidende. Was zähle sei eher kreatives Handeln, Freude am Umgang mit dem Teig. Und Kofler setzt noch eines hinzu: „Wer morgens um fünf Uhr anfängt ist um 13 Uhr fertig und kann ins Freibad gehen“.

Ausbildungsplätze im Kraftfahrzeuggewerbe sehr gefragt


Harry Brambach dagegen steht einer Branche vor, die sich auch heute noch wenig Sorgen um den Nachwuchs machen muss. Auch wenn die Zahl der Interessenten etwas geringer geworden sei, „gibt es grundsätzlich genügend Bewerber“ sagt der Präsident des Kraftfahrzeuggewerbes in Baden-Württemberg. Eine Arbeit im Kraftfahrzeuggewerbe steht vor allem bei männlichen Jugendlichen noch immer hoch im Kurs. Die Anforderungen aber seien gestiegen, sagt Brambach: „In das Auto kommt immer mehr Elektronik hinein, mit schwachem Verständnis in Mathematik oder Elektrotechnik ist nicht mehr viel zu machen“.

Noch bis Ende September dürfte es dauern, bis genaue Zahlen darüber vorliegen, wie viele Lehrstellen zwischen Main und Bodensee besetzt werden konnten und wie viele offen blieben. Im vergangen Jahr jedenfalls wurden etwas mehr als 73 800 neue Lehrverträge im deutschen Südwesten unterschrieben, ein Plus um 0,9 Prozent. Dagegen habe es rund 105 000 Interessenten für eine Stelle als Auszubildende oder Auszubildender gegeben, kritisiert Gabriele Frenzer-Wolf, die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Land. Manche Interessenten seien bis heute ohne Lehrstelle, andere in verschiedenen Qualifikationsmaßnahmen: „An den Leistungsstarken sind die Betriebe interessiert, die anderen werden vernachlässigt“.

Wie so oft, kommt es auch bei dieser Beurteilung eben auf die Perspektive an: „Mit einer Fünf in Mathematik kann man eben nicht erfolgreich einen technischen Beruf erlernen“, sagt etwa Rainer Reichhold, der Präsident des Baden-Württembergischen Handwerkstages. Und er fügt hinzu: „Wir können nicht sehenden ­Auges jemand in eine Ausbildung schicken, die er nicht besteht“. Doch nicht nur weil Anforderungen der Betriebe und die Fähigkeiten der Kandidaten für eine Lehrstelle oft nicht zusammenpassen, gibt es Probleme für ­das Handwerk: „Wenn Porsche mit einem Lehrvertrag winkt, wird dies gerne angenommen“ – gerade in Ballungsgebieten wirken Unternehmen wie Daimler, Bosch oder Porsche auf dem Lehrstellenmarkt wie eine Art Staubsauger – so wie auch viele Hidden Champions auf dem flachen Land. Allein im Handwerk gab es im vergangen Jahr nach den Angaben des Handwerkstags 8000 nicht besetze Lehrstellen, obwohl auch die Zahl der Lehrverträge leicht auf 19 480 stieg.

Fachkräftemangel gibt Firmen zu denken


Offene Lehrstellen, so meint Andreas Richter der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Region Stuttgart, seien vor allem mit Blick auf die Zukunft ein Problem. „Jedes dritte Unternehmen in Baden-Württemberg sieht den Fachkräftemangel als größtes Risiko an“, sagt Richter. Schon die heutige Anzahl zu halten sei eine gewaltige Herausforderung: „Bis 2030 gehen 960 000 Fachkräfte in den Ruhestand“. Im vergangenen Jahr wurde die Zahl der Ausbildungsstellen auch im Bereich der IHK Stuttgart leicht auf 10 630 gesteigert, möglicherweise sei auch dieses Jahr ein kleines Plus drin“, sagt Richter. „Aber der Markt ist ein absoluter Bewerbermarkt geworden,“ dieses Jahr blieben wohl noch mehr Lehrastellen offen als im Vorjahr.

Auch Christian Rauch ist der Ansicht, die Bewerber säßen oft am längeren Hebel. Die Berechnungen des DGB hält der Vorsitzende der Geschäftsführung der Regionaldirektion Baden-Württemberg bei der Bundesagentur für Arbeit für „überzogen“. Dieses Jahr seien fünf Prozent mehr Ausbildungsstellen als im Vorjahr gemeldet worden, für 100 gemeldete Bewerber gebe es rein rechnerisch 130 Stellen. „Der Ausbildungsmarkt in Baden-Württemberg ist bundesweit der beste,“ sagt Rauch – auch wenn natürlich nicht jeder seinen Traumberuf finde. Die Arbeitsagentur jedenfalls versuche, den Jugendlichen Vorschläge zu machen, die ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprächen, außerdem gebe es Angebote an Jugendliche, „die nicht „im ersten Anlauf“ den Übergang von der Schule in einen Betrieb schaffen“ sowie Anreize für Unternehmen. „Wir haben mehr Möglichkeiten als nachgefragt werden“, sagt Rauch.

Von Ulrich Schreyer, Stuttgarter Nachrichten 30. Juli 2016